Twielenfleth

Sie wurde im Deich verscharrt, ihr Körper starrt vor Erde, aber trotz ihrer schweren Verletzung ist kein Blut zu sehen. Hat die Elbe es abgewaschen? Als bei der Deichschau im Jahre 1828 im Alten Land die Leiche von Gesche Wulfts Magd Trine entdeckt wird, stehen alle vor einem Rätsel. Wachtmeister Krischan Lührs tut sich schwer damit, Täter und Motiv zu finden. Vielleicht kann die Spökenkiekerin Tante Metta zur Lösung des Rätsels beitragen? Derweil übersetzt Gesches Logiergast Herr Rückert morgenländische Liebesgedichte und ein Kaffeehändler aus Puerto Rico offenbart ihr Geheimnisse aus seiner Kindheit im Alten Land. AnnelieSchlobohmistmitTwielenfleth eine mitreißende Fortsetzung ihres Debütromans "Februarflut" gelungen.

Und plötzlich tauchte Friedrich Rückert in meinem Buch auf

von Annelie Schlobohm

 

Da saß ich nun und schrieb am 3. Kapitel meines historischen Kriminalromans, der 1828 im Alten Land spielte. Mein Plan war ein Leichenfund während der Deichschau, und dass Gesche und Krischan endlich ein Paar wurden, was sich im ersten Band der Gesche-Serie angekündigt hatte.

 

Es war nur recht schwierig mit der Liebe im Alten Land damals, d.h. eigentlich war es zu einfach, und damit gab es literarisch wenig herauszuholen. Wenn nämlich ein junger Mann und ein Mädchen einander zugetan waren, sagte der Mann nach einiger Zeit (Standesgleichheit vorausgesetzt): „Wollen wir unseren Kram zusammenschmeißen?“ Und sie antwortete: „Jo.“ Oder: “Nöh.“

 

Ich grübelte: Wie konnte es mir als Romanautorin nur gelingen, romantische Liebe ins Spiel bringen, um damit meine Leserinnen zu erfreuen?

 

Und dann tauchte Friedrich Rückert auf, als Logiergast von Gesche. Er war plötzlich da, kam durch die Großtür von Gesches Bauernhaus in Twielenfleth spaziert. Und er brachte die Liebe mit, durch seine Arbeit, allerdings nur in Worten. Kurzerhand ließ er Gesche teilhaben an seinen Übersetzungen von mystischen Liebesgedichten aus dem Morgenland, die von der Liebe zu Gott handelten. In der Altenteilerkammer, die er bewohnte, lagen überall Bücher und Papier herum, auch im Alkhoven.

 

Zu meiner Erleichterung war Gesche empfänglich für Poesie, sie verstand, worum es in Rückerts Übersetzungen von Dschellalludin Rumis Gedichten ging.

 

„Oh, komm und sei nicht taub der Liebe,/ Dich zu verwandeln, oh, erlaub` der Liebe.“

 

Die Verwandlung sollte möglichst zum Guten sein, fand Gesche.

 

„Die Rose ist das schönste Liebeszeichen,/ Dem Herzensfreund will ich die Rose reichen./ Gedanken sterben im Gefühl der Liebe,/ Wie Gartenblumen vor der Ros´ erbleichen“

 

Gedanken waren wichtig, dachte Gesche, denn das Denken hatte ihr oft gute Dienste geleistet. Sie war plietsch. Aber Liebesgefühle würden sie durchs Leben tragen, hoffte sie. Ob-wohl die manchmal unbequem waren.

 

„Immer mehr werd´ ich begehren,/ Als der Freund mir wird gewähren./ Stets je mehr ich Blumen pflücke,/ Seh` ich mehr den Lenz gebären./ Wo ich durch den Himmel schweife,/ Rol-len immer neue Sphären./ Und es kann die ew´ge Schönheit/ Nur die ew´ge Sehnsucht nähren.“

 

Auch dass die irdische Liebe Grenzen hat, konnte Gesche aus Erfahrung bestätigen. Spätestens der Tod beendete sie, zurück blieb die Sehnsucht. Und der einzige Freund, Gott.

 

Gesche geht manchmal an die Elbe und dort meint sie, im Sonnenlicht, das sich auf dem Wasser spiegelt, Briefe von Gott zu sehen. Die kann sie lesen. „Liebe Gesche, ich liebe dich. Gott“ Das war zum Beispiel ein Brief.

 

Krischan Lührs, den ich Autorin als Ehemann für Gesche vorgesehen hatte, war hingegen weniger empfänglich für Poesie. Er nahm die Verse wörtlich.

 

„Komm, der Liebe Sklave sei,/ Denn die Lieb´ ist Sklaverei./ Lass den Sklavendienst der Welt,/ Tritt der Liebe Sklaven bei./ Freie macht zu Sklaven Welt,/ Liebe macht die Sklaven frei.“

 

Dies war für ihn ein Anlass, einen längeren Vortrag darüber zu halten, dass es im Alten Land nie Sklaven gegeben hatte. Die Empfehlung, Sklaverei im übertragenen Sinne zu sehen, be-scherte Krischan Verwirrung und Ablehnung. Was konnte es denn sonst bedeuten, als das, was dastand?

 

Eifersucht wurde in ihm entfacht durch das Rückert-Gedicht „Kehr ein bei mir.

 

Du bist die Ruh,/ Der Friede mild,/ Die Sehnsucht du/ Und was sie stillt.“

 

Kehr ein bei mir/ Und schließe du/ Still hinter dir/ Die Pforten zu.“

 

Krischan Lührs denkt, dass Friedrich Rückert Gesche damit auffordert, in seine Kammer einzutreten und sich mit ihm in den Alkhoven zu legen, wo eine Reihe von Unziemlichkeiten geschehen würden. Das Papier wäre vorher zur Seite geräumt worden.

 

Gesche denkt, Krischan sieht Gespenster. Friedrich Rückert hat überhaupt kein bisschen so etwas im Sinn. Schließlich ist er verheiratet und hat vier kleine Söhne. In der Fränkischen Schweiz, ganz weit im Süden, lebt seine Familie. Ob das überhaupt noch zum Königreich Hannover gehört, weiß Ge-sche nicht.

 

Krischan Lührs empfiehlt ihr trotzdem, den Hund Lütje nachts in der Kofferkammer schlafen zu lassen, dann kann Lütje sie durch sein Gebell wecken, wenn sich der Dichter ihrem Alkoven nähert. Sicher ist sicher.

 

Ich als Autorin finde es allerdings selbst ein wenig gefährlich für die Tugend meiner Heldin, dass Friedrich Rückert auch dieses Gedicht ins Spiel bringt. „Ich liebe dich, weil ich dich lieben muss,/ Ich liebe dich, weil ich nicht anders kann,/ Ich liebe dich durch einen Himmelsschluss,/ Ich liebe dich durch einen Zauberbann.“

 

Das hat er geschrieben, als er seine jetzige Frau kennenlernte. Ich hoffe, Gesche fühlt sich nicht angesprochen. Nun muss ihr Verstand sie retten. Bitte nicht in dieser Lage auf dein Gefühl vertrauen, Gesche! Wir sind im 19. Jahrhundert! Es droht Ehrverlust! Lieber mal im Licht auf der Elbe lesen, was Gott dazu meint. Oder bei Rumi nachlesen.

 

„Er hat´s gemacht, was soll ich machen?/ Er ist´s der wacht, was soll ich wachen?/ Ich will in seinem Schatten schlafen,/

 

Er sitzt und lenket meinen Nachen.“

 

Also, Gesche, ich glaube, damit ist u.a. gemeint, dass Gott dich auch aus einem Gefühlschaos befreien kann. Aber wozu überhaupt in so etwas hineingeraten? Bleib´ doch lieber allein in deinem Alkhoven! Und den Heuboden, wo es so betörend duftet, brauchst du Friedrich Rückert ja nicht unbedingt zu zeigen.

 

Nun möchte ich aufklären, wie Friedrich Rückert überhaupt nach Twielenfleth geraten ist. Jemand hat mal zu meinem Verleger gesagt: „Dass Friedrich Rückert jemals im Alten Land war, das glaube ich keine Sekunde.“ Und er antwortete: „Aber du kannst auch nicht nachweisen, dass er nicht dort war.“ Für mich ist recht unwichtig, ob ja oder nein, ich bin aber ziemlich sicher, dass Rückert sich niemals im Alten Land aufhielt. Für mich war entscheidend, dass Friedrich Rückert durch seine Arbeit die Form von Liebe in meinem Roman gebracht hat, die ich suchte.

 

Trotzdem habe ich mir auch Gedanken darüber gemacht, was er selbst im Alten Land gefunden hätte.

 

Ich denke, er brauchte Erleichterung vom ewigen Druck der Bespitzelung und willkürlichen Zensur seiner Werke, dem er ständig ausgesetzt war. Rückert litt bestimmt stark darunter, von den amtlichen Stellen als verdächtig deklariert zu werden. Vor allem erfuhr das Ablehnung , was er schrieb und übersetz-te, aber auch seine langen Haare und seine Zugehörigkeit zu den Freimaurern.

 

Wenn es sich bei vielen Gedichten seines Werks auch offensichtlich um Liebesgedichte handelte, so waren doch nicht wenige davon Übersetzungen aus dem Arabischen und Persi-schen von morgenländischen Dichtern, die amtliche Stellen zu den Feinden rechnen mussten.

 

Außerdem konnte Liebe gefährlich sein, ihre umstürzlerische Kraft kannte man ja. Niemand ist davor sicher, dass die Liebe das unterste zu oberst kehrt, sagt eine Romanfigur. Zum Fürchten!

 

Staatliche Stellen sahen nur eine Möglichkeit, die Liebe einzudämmen: Menschen in den Kerker werfen, die sich zu intensiv mit ihr beschäftigten! Friedrich Rückert gehörte dazu. Rette sich, wer kann!

 

Man bescheinigte ihm u.a. einen beschränkten Untertanenver-stand und erwartete von ihm untertänigsten Gehorsam. Es ging nicht um Vernunft und schon gar nicht um Liebe, sei es auch Menschenliebe im christlichen Sinne.

 

Friedrich Rückert konnte sich nirgends sicher fühlen und musste manches Mal fliehen, wenn der Druck zu groß wurde, u.a. floh er nach Rom. Von seinen Fluchten brachte er Erfahrungen mit, die ihn zu neuen Werken inspirierten. Immerhin!

 

Ich habe mir einfach die dichterische Freiheit genommen, Rückert auch ins Alte Land fliehen zu lassen. Dort hätte er sich gut erholen können bei Spaziergängen auf dem Elbdeich im Sonnen- und Mondlicht. Es wären ihm sicherlich einige wohlgedrechselte Verse eingefallen. Jedenfalls hätte er in Ruhe arbeiten können. Für eine Weile hätte er sich gut vor den Spitzeln verstecken können im Alten Land.

 

Nun, in meinem Roman wurde die Leiche gefunden während der Deichschau, der Fall aufgeklärt. Aber die Ehe von Gesche und Krischan kam nicht zustande, entgegen meiner Absicht. So war es denn auch völlig unpassend, den Arbeitstitel „Gesche und Krischan“ für das Buch zu verwenden. Der Roman heißt nun „Twielenfleth“.

 

Friedrich Rückert kann bestimmt nichts dafür, dass es so gekommen ist.